Sirene und System

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von Martin Lammert

Deutschlands Zivil- und Bevölkerungsschutz hat eine ganze Reihe von Schwächen. Angesichts neuer Bedrohungen muss er grundlegend anders aufgestellt werden.

Die geopolitischen Umwälzungen der vergangenen Jahre haben den Stellenwert des Zivil- und Bevölkerungsschutzes in der Bundesrepublik Deutschland in ein neues Licht gerückt. Insbesondere gilt dies für den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, die volatile Situation im Nahen und Mittleren Osten, die spürbaren Auswirkungen des Klimawandels, weltweite Pandemien sowie hybride und asymmetrische Bedrohungen. 

Das vormalige Gefühl sicherheitspolitischer Stabilität und planbarer Risiken in Europa ist einem komplexen Bedrohungsszenario gewichen, das nicht nur militärische Abwehrstrategien, sondern auch eine robuste zivile Resilienz notwendig macht. Deutschland muss hier jahrzehntelange Versäumnisse aufholen und den Zivil- sowie Bevölkerungsschutz strategisch, strukturell und technisch neu aufstellen. Es handelt sich nicht nur um rein administrative oder technische Aufgaben, sondern um eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, deren Bedeutung weit über die bloße Gefahrenabwehr hinausgeht: Der Schutz der Zivilbevölkerung ist ein inte­graler Bestandteil der Daseinsvorsorge und der nationalen Sicherheit.

Die Grundlagen

Der Zivilschutz umfasst alle Maßnahmen zur Vorbereitung auf bewaffnete Konflikte oder Angriffe, die die Bevölkerung oder ihre Lebensgrundlagen gefährden. Hierzu zählen unter anderem Schutzräume, Warnsysteme, Evakuierungspläne oder Notfallversorgungen. Verfassungsrechtlich ist dieser Bereich dem Bund zugewiesen (Art. 73 Abs. 1.1 Grundgesetz). Der Zivilschutz tritt im Kontext kriegerischer oder kriegsähnlicher Bedrohungen in den Vordergrund, auch wenn die unmittel­bare Wahrscheinlichkeit eines Angriffs auf deutsches Staatsgebiet bis vor wenigen Jahren als gering eingeschätzt wurde.

Der Bevölkerungsschutz hingegen betrifft den Schutz der Zivilbevölkerung vor nichtmilitärischen Gefahren – Naturkatastrophen, technischen Großunfällen, Pandemien oder ähnlichen Ereignissen. Er ist überwiegend Aufgabe der Länder und wird im föderalen System Deutschlands in enger Kooperation mit Kommunen, Feuerwehren, Hilfsorganisationen (zum Beispiel Deutsches Rotes Kreuz, Arbeiter-Samariter-Bund, Johanniter, Malteser) und dem Technischen Hilfswerk organisiert.

Trotz dieser klaren juristischen Trennung verwischen in der Praxis die Grenzen zwischen beiden Bereichen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass viele Gefahrenlagen – etwa Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen oder hybride Bedrohungen – sowohl friedens- als auch kriegsnahe Merkmale aufweisen. In der Zusammenarbeit aller Akteure, insbesondere in der Koordination zwischen Bund und Ländern, zeigen sich jedoch weiterhin gravierende strukturelle und operative Mängel.

Schwächen und Defizite

In der öffentlichen Wahrnehmung war der Zivil- und Bevölkerungsschutz lange Zeit allenfalls ein Randthema. Diese Vernachlässigung ist sowohl im politischen Diskurs als auch in der finanziellen und organisatorischen Ausstattung deutlich geworden. Eine Reihe struktureller Defizite sind dabei besonders hervorzuheben:

Veraltete Infrastruktur und Technik: In vielen Kommunen wurden klassische Sirenen abgebaut, da sie nach dem Ende des Kalten Krieges als überflüssig galten. Neue digitale Warnsysteme wie Cell Broadcast oder NINA funktionieren nicht überall zuverlässig, insbesondere in ländlichen Regionen mit schwacher Netzabdeckung; allerdings funktionierte NINA selbst bei dem starken Unwetter in Berlin Ende Juni 2025 nicht. Auch viele Einsatzfahrzeuge, Kommunikationsgeräte und Logistik­systeme sind technisch veraltet und ­reparaturanfällig.

Unzureichende strategische Vorratshaltung: Während des Höhepunkts der Covid-19-Pandemie zeigte sich drastisch, dass zentrale Ressourcen wie Schutzausrüstung, Beatmungsgeräte oder Desinfektionsmittel nicht in ausreichender Menge vorhanden waren. Die Verantwortung für Lagerhaltung und Notreserven ist unklar verteilt, es fehlen verbindliche Konzepte und bundesweite Standards.

Mangelhafte Koordination: Die föderale Aufgabenteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen führt in Krisenzeiten zu Reibungsverlusten. Unterschiedliche Zuständigkeiten, mangelnde gemeinsame Datenlage und uneinheitliche Krisenpläne erschweren eine koordinierte Reaktion. Notwendige Informationen fließen oft zu langsam oder nicht zielgerichtet. 

Rückläufige gesellschaftliche Resilienz: Die Selbstschutzkompetenz der Bevölkerung hat in den vergangenen Jahrzehnten deutlich abgenommen. Viele Menschen wissen weder, wie sie sich bei Stromausfall oder Hochwasser verhalten sollen, noch verfügen sie über Notvorräte. Das Thema Krisenvorsorge ist vielfach mit Tabus oder Ängsten belegt und in der schulischen Bildung kaum verankert.

Die genannten Defizite haben sich in verschiedenen Lagen – etwa während der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 – offenbart. Diese sollte man als Warnsignale verstehen.

Neue Bedrohungslagen

Zunehmend komplexe und dynamische Risikolagen verlangen eine moderne und flexible Schutzarchitektur. Die wichtigsten Bedrohungsdimensionen umfassen:

Klimawandel und Extremwetterereignisse: Die Häufung von Starkregen, Hitzewellen, Waldbränden oder Sturzfluten ist eine Herausforderung für bestehende Infrastrukturen. Der Klimawandel wird nicht als einzelne Katastrophe auftreten, sondern in Form kumulativer, sich überlagernder Ereignisse, die langfristige ­Anpassungen erfordern.

Hybride Kriegsführung und Cyber­an­griffe: Moderne Konflikte werden nicht nur mit Waffen geführt, sondern durch digi­tale Destabilisierung, Desinformation und gezielte Angriffe auf kritische Infrastrukturen. Cyberangriffe können Stromnetze, Krankenhäuser, Verkehrssteuerungen oder Wasserversorgungssysteme lahm­legen – mit unmittelbaren Auswirkungen auf das tägliche Leben.

Pandemien und biologische Risiken: Die Corona-Krise war ein Weckruf für das gesamte Gesundheits- und Verwaltungssystem. Es fehlt vielerorts an Pandemieplänen, personellen Ressourcen, flexiblen Meldeketten und der Einbindung wissenschaftlicher Expertise in politische Entscheidungsprozesse. Auch die Bevölkerung war unzureichend vorbereitet – sowohl mental als auch organisatorisch.

Geopolitische Eskalationen: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat gezeigt, dass konventionelle Kriege auch in Europa wieder führbar sind. Dies zwingt Deutschland dazu, sich auf den Fall militärischer Bedrohung und daraus resultierende Binnenflüchtlingsbewegungen, Infrastrukturausfälle und Versorgungs­lücken vorzubereiten.

Dringend erforderliche Aufgaben

Die genannten Bedrohungslagen verlangen nach einem grundlegenden Wandel: weg von reaktiven Einzelmaßnahmen, hin zu einer vorausschauenden, integrativen Sicherheitsarchitektur. 
Erstens bedarf es einer Reform der institutionellen Zuständigkeiten. Die historisch gewachsene Trennung zwischen Zivil- und Bevölkerungsschutz hemmt eine effiziente Reaktion. Es braucht eine einheitliche nationale Strategie mit klarer Führungsstruktur. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) muss zur operativen Leitstelle für nationale Krisen ausgebaut werden – mit Weisungsbefugnissen in bestimmten Lagen. Eine bundesweit einheitliche Datenbasis, ein nationales Lagezentrum im Bundesinnenministerium und abgestimmte Notfallpläne sind erforderlich.

Zweitens müssen die Warn- und Kommunikationssysteme ausgebaut werden. Moderne Krisenkommunikation muss mehrgleisig funktionieren. Sirenen, Cell Broadcast, Push-Nachrichten, soziale Medien, digitale Infotafeln im öffentlichen Raum – alle diese Kanäle sollten gleichzeitig und barrierefrei nutzbar sein. Auch an Menschen mit Einschränkungen muss gedacht werden. Die Bevölkerung muss Vertrauen in die Systeme entwickeln, was regelmäßige Tests und öffentlichkeitswirksame Übungen voraussetzt.

Ein grundlegender Wandel ist erforderlich: weg von reaktiven Einzelmaßnahmen, hin zu einer voraus­schauenden, integrativen ­Sicherheitsarchitektur

Drittens muss die Krisenvorsorge und -bewältigung verbessert werden. Eine robuste Vorsorge braucht umfassende Notfallpläne auf allen Verwaltungsebenen, inklusive Zuständigkeitsketten, Ressourcenverzeichnissen und Schulungskonzepten. Mobile Versorgungseinheiten, Notstromaggregate und Wasseraufbereitungsanlagen müssen dezentral bereitgehalten werden. Auch interkommunale Kooperationen können helfen, Synergieeffekte zu schaffen.

Viertens sollte die zivilgesellschaftliche Resilienz gestärkt werden. Zivilschutz beginnt beim Individuum. Aufklärungskampagnen in Schulen, Medien und Vereinen sollten das Thema enttabuisieren. Der Aufbau von lokalen Netzwerken (zum Beispiel Nachbarschaftshilfen) kann im Ernstfall Leben retten. Programme wie „Krisenhelfer vor Ort“ oder „Selbstschutzberater“ können bestehende Strukturen unterstützen. Ehrenamt und Freiwilligendienste brauchen bessere finanzielle und soziale Anerkennung.

Fünftens muss der Schutz Kritischer Infrastrukturen (KRITIS) verbessert werden. Kritische Infrastrukturen müssen regelmäßig auf ihre Widerstandsfähigkeit geprüft werden. Dies betrifft insbesondere Risikoanalysen, Penetrationstests, Backups, Redundanzsysteme und Notfallmanagement. Betreiber solcher Infrastrukturen sollten zur Zusammenarbeit mit Behörden verpflichtet werden, inklusive regelmäßiger Krisenübungen.

Sechstens sollten die Forschung und Szenarienplanung ausgebaut werden. Nur wer Krisen voraussieht, kann sie wirksam bewältigen. Die Forschung zu Risiken, Resilienzstrategien und Systemsimulationen muss ausgebaut werden – nicht nur technisch, sondern auch sozialwissenschaftlich. Krisen wirken unterschiedlich auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen. Daraus müssen gezielte Maßnahmen entwickelt werden. Die Zusammenarbeit von BBK, dem Robert-Koch-Institut, Universitäten und europäischen Partnern ist essenziell.

Politischer Wille und Finanzierung

Zivil- und Bevölkerungsschutz ist eine klassische Querschnittsaufgabe. Sie benötigt nicht nur rechtliche Grundlagen und technische Ausstattung, sondern vor allem politischen Rückhalt. Die Stärkung des BBK-Haushalts ist ein erster Schritt, doch entscheidend ist eine strukturelle und dauerhafte Verankerung im politischen Handeln. Sicherheit muss in einem erweiterten Verständnis – als Schutz von Leben, Gesundheit und gesellschaftlicher Stabilität – begriffen werden. In diesem Sinne ist eine sicherheitsorientierte Finanzplanung, auch über Legislaturperioden hinweg, unabdingbar.

Sicherheit muss als Schutz von Leben, Gesundheit und gesellschaftlicher Stabilität begriffen werden

Ein zeitgemäßer Zivilschutz muss als integraler Bestandteil einer umfassenden Sicherheitsarchitektur verstanden werden, die sowohl militärische als auch zivile Komponenten berücksichtigt. Dabei sollten dezentrale und resiliente Strukturen – wie sie im föderalen System der Bundesrepublik angelegt sind – durch bessere Koordination zwischen Bund, Ländern und Kommunen gestärkt werden. Gleichzeitig ist die Einbindung der Bevölkerung von zentraler Bedeutung: Dies erfordert breit angelegte Bildungsmaßnahmen, transparente Kommunikation und Vertrauen in staatliche Institutionen – jedoch ohne Rückgriff auf obrigkeitsstaatliche oder ideologisch aufgeladene Steuerungsmechanismen.

Darüber hinaus muss der heutige Zivilschutz technologisch modernisiert und auf digitale Bedrohungen vorbereitet werden. Schutz kritischer Infrastrukturen, funktionierende Kommunikationsnetze und internationale Kooperationen – etwa im Rahmen der EU – sind zentrale Voraussetzungen für eine nachhaltige Krisenresilienz. Nicht zuletzt sollte der Zivilschutz auch als Element einer vorsorgenden Daseinsvorsorge begriffen werden, das eng mit Gesundheitssystemen, Energieversorgung und Versorgungssicherheit verknüpft ist.

Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass der Schutz der Bevölkerung nicht nur eine staatliche Aufgabe ist, sondern ein gesamtstaatliches und gesamtgesellschaftliches Anliegen sein muss.

Eine grundlegende Neuaufstellung

Zukunftsfähiger Zivil- und Bevölkerungsschutz beginnt mit einer grundlegenden Neuaufstellung seiner Strukturen. Zuständigkeiten müssen klar geregelt, Ressourcen in angemessenem Maß aufgebaut und vorgehalten und die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen, wie schon dargestellt, effektiv koordiniert werden. Katastrophenschutzpläne dürfen keine bloßen Papiertiger sein – sie müssen realitätsnah geprobt, regelmäßig aktualisiert und technisch unterstützt werden. Frühwarnsysteme und digitale Kommunikationsplattformen sind dabei genauso entscheidend wie der Ausbau resilienter Infrastrukturen, etwa bei Energieversorgung, Wassersicherheit und medizinischer Versorgung.

Ein besonderer Fokus muss auf der Stärkung der Selbsthilfefähigkeit der Bevölkerung liegen. Bürgerinnen und Bürger sollten durch Informationskampagnen, Schulungen und praktische Übungen in die Lage versetzt werden, in Notsituationen richtig zu handeln – sei es bei Stromausfällen, Hochwasser, Cyberangriffen oder Versorgungskrisen. Schulen, Betriebe und Nachbarschaften müssen in diese Bemühungen einbezogen werden. Ein „Zivilschutz-ABC“ gehört ebenso in den Unterricht wie Erste-Hilfe-Kurse und Evakuierungsübungen.

Moderner Zivil- und Bevölkerungsschutz ist kein Luxus – er verdient höchste politische Priorität

Ebenso entscheidend sind Aufbau und Erhalt verlässlicher freiwilliger Strukturen. Das Ehrenamt im Katastrophenschutz, bei der Feuerwehr oder den Rettungsdiensten muss gezielt gefördert, finanziell unterstützt und gesellschaftlich gewürdigt werden. Gleichzeitig ist in eine moderne Ausrüstung und digitale Einsatzsysteme zu investieren. Realistische Ausbildungskonzepte, auch unter der Einbeziehung von Extremszenarien, bilden den Praxisteil.

Nicht zuletzt muss der Zivil- und Bevölkerungsschutz europäisch und international gedacht werden. Krisen machen an Grenzen nicht halt. Daher ist eine engere Vernetzung mit den europäischen Nachbarn, der NATO und internationalen Hilfsorganisationen notwendig – in der Ausbildung, bei der Logistik und bei der Bewältigung von Großschadenslagen.

Ein moderner Zivil- und Bevölkerungsschutz ist kein Luxus – er ist eine Investition in unsere Sicherheit, unsere Widerstandsfähigkeit und unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Er verdient höchste Priorität auf der politischen Agenda.

Ein wirksamer Zivil- und Bevölkerungsschutz im 21. Jahrhundert muss mehr sein als ein technisches Kriseninstrument. Er ist Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität, politischer Weitsicht und staatlicher Verantwortung – und kann nur dann erfolgreich sein, wenn er demokratisch legitimiert, gesellschaftlich verankert und auf die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft ausgerichtet ist.